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1964 werden die neuen Berninabahn Triebwagen ABe 4/4 41-46 abgeliefert. Das kommt für die Berninabahn einer kleinen Revolution gleich. Obwohl die RhB in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg, einige der alten Triebwagen umbauen und erneuern lässt, sind diese Triebwagen effektiv die ersten neuen Triebfahrzeuge seit 1928. Franz Skvor, damals ganz neu bei der RhB, verfasst den folgenden Bericht:
«Schon in Nr.1/1963 unserer RhB-Nachrichten wurde auf die im Rahmen des neuen Eisenbahngesetzes ermöglichte Bestellung von 6 leistungsfähigen Triebwagen für die Berninastrecke hingewiesen. Im September dieses Jahres (1964) wird nun, mit erheblicher Verspätung auf die ursprüngliche Termintabelle, der erste Triebwagen dieser neuen Serie, ABe 4/4 41-46, von den Werkhallen in Schlieren ZH in sein zukünftiges Wirkungsfeld überführt, um nach eingehenden Probefahrten seiner Zweckbestimmung übergeben zu werden. Die restlichen Fahrzeuge werden in Abstanden von ca.4 Wochen nachfolgen. Der Zeitpunkt scheint daher gegeben, um einen kurzen Rückblick auf die Baugeschichte zu halten und auch auf die wesentlichen technischen Merkmale der neuen Triebfahrzeuge hinzuweisen.
Typenskizze
Baugeschichte
Bis zur Ablieferung einer Fahrzeugserie sind allerhand Anstrengungen notwendig.
Unter anderem wurde sogar untersucht, ob der Einbau einer Zahnstange auf der Bernina-Südseite wirtschaftlich wäre. Die Tatsachen, dass auf 70 %o Steigung ein Adhäsionsfahrzeug nur rund das 1,3-fache seines Eigengewichtes als Anhängelast ziehen kann, dass der Achsdruck auf 12 t beschränkt ist und die Möglichkeiten der Energieversorgung beachtet werden müssen, erforderten eine genaue Überprüfung der vorgeschlagenen Fahrzeugtypen (vier- oder sechsachsig, Vielfachsteuerung, Personen- oder Gütermotorwagen, Betriebssicherheit usw.).
11./12.4.57: Profilfahrt mit einem alten Triebwagen der Strecke Chur - Arosa zur Festlegung der zulässigen Abmessungen neuer Bernina-Triebwagen. Bis anhin war auf der Berninastrecke nur eine Fahrzeugbreite von 2,5 m gestattet (übriges RhB-Netz 2,7 m).
8.11.60: Offizielle Offertanfrage an die Wagenbau-und Elektrofirmen unter Beilage eines ausführlichen Pflichtenheftes.
28.8.61: Grundsätzlicher Antrag an den Verwaltungsrat der RhB betreffend die Beschaffung von 6 Bernina-Triebwagen.
16.10.61: Der Verwaltungsratsausschuss bewilligt die Vergebungen.
17.10.61: Die formellen Bestellungen werden den Firmen zugestellt und zwar für den wagenbaulichen Tail an die Schweizerische Wagons- und Aufzügefabrik Schlieren/Zürich (SWS) und für die elektrische Ausrüstung an die Maschinenfabrik Oerlikon (MFO), Zürich (Triebmotoren, gewisse Apparate, Montage), S.A. des Ateliers de Sécheron (SAAS), Genf (Hauptstromapparate) sowie AG Brown, Boveri & Co. (BBC), Baden (Hilfsmaschinen, Widerstande).
31.3.62: Die Lieferverträge und die technischen Liefervorschriften (Pflichtenheft) werden gegenseitig unterzeichnet. Ablieferung des ersten Triebwagens gemäss ursprünglichem Lieferprogramm: 1 November 1963!
Bau
Es wäre nun irrig zu glauben, nach erfolgter Bestellung bleibe für die RhB nichts weiteres mehr zu tun, als auf die Ablieferung der Fahrzeuge zu warten. Jetzt begann erst die grosse Arbeit! Vorerst galt es, das umfangreiche Pflichtenheft - ein Dokument von immerhin 40 Seiten-mit den Firmen unterschriftsreif zu bereinigen. Die Lieferwerke erstellten hierauf in rund 50 000 Arbeitsstunden gegen 2 500 Zeichnungen und Schaltschemata, bevor in den Werkstätten mit der Arbeit begonnen werden konnte. Während dieser Konstruktionszeit mussten die Entwürfe, Werkstattzeichnungen und Schemata laufend mit den Lieferfirmen besprochen, bereinigt und aufeinander abgestimmt werden, wofür bis heute über 40 Besprechungen notwendig waren. Wenn auch mitunter verschiedene Meinungen aufeinanderstossen, so darf die Zusammenarbeit in diesem Fachkollegium doch als sehr gut bezeichnet werden. Dieses Zusammenwirken ist für die Qualität der Konstruktion außerordentlich wichtig. Die hauptsächlichsten Zeichnungen müssen jeweils auch dem EAV zur Genehmigung unterbreitet werden. Weiter galt es noch die zahlreichen Teile - meistens bewährte Normalteile - zu beschaffen, welche die RhB den Lieferfirmen zur Verfügung stellt, z.B. Vakuum-Pumpen, Kompressoren, Bremsteile, Ausrüstungsteile, Stromabnehmer usw.
Bau Wagenkasten
Während der eigentlichen Bauzeit sind Baukontrollen in verschiedenen Stadien des Zusammenbaues durchzuführen, und schliesslich folgt noch eine eingehende Abnahme- und Funktionskontrolle vor der Ablieferung.
Bau Triebmotor
Nach der Überfuhr finden mit jedem Triebwagen die Probe- und Messfahrten statt. Sind diese befriedigend verlaufen, so kann mit dem zuständigen Inspektor des EAV die Kollaudation vereinbart werden, wonach das Fahrzeug endlich dem Betrieb zur Verfügung steht. Nach Ablauf eines Jahres ist schliesslich noch die Garantiekontrolle durchzuführen, bei welcher Gelegenheit allfällige Fehler und Mangel zu beheben sind.
Beschreibung der Triebwagen
In ihrem äusseren Aussehen gleichen die neuen Bernina-Triebwagen weitgehend den 1957/ 58 in Betrieb genommenen Motorwagen ABFe 4/4 481-486 der Stracke Chur - Arosa. Entsprechend den kleineren Kurvenradien (Minimal-Radius 45 m) und dem engeren Lichtraumprofil der Berninastrecke mussten die Fahrzeuge bei sogar etwas grösserer Leistung kürzer gebaut werden. Sie haben den in jeder Beziehung extremen Bedingungen der Berninastrecke (Schienenzustand, extreme Temperaturen, Schneeverwehungen, Flugschnee usw.) zu genügen, was verschiedene Sondermassnahmen notwendig machte. Ebenso erforderte die von Chur-Arosa abweichende Fahrdrahtspannung (1000 V Gleichstrom) eine andere Auslegung der elektrischen Ausrüstung.
Werbeaufnahme RhB, ABe 4/4 43 in Alp Grüm nach Inbetriebnahme
Die Drehgestelle der neuen Triebwagen sind von ähnlicher Bauart wie diejenigen der bewährten Stammnetz-Lokomotiven 0e 4/4 601 - 610 und Ge 6/6 - 701 und 702 . Genau gleiche Drehgestelle erhalten auch die beiden bestellten Zweikraftlokomotiven Gem 4/ 4 801 und 802. Die Zug- und Stossvorrichtungen sind an den Drehgestellen angebaut.
Die MFO-Triebmotoren sind sogenannte Tatzlagermotoren, die sich auf der einen Seite über Rollenlager (erstmals bei der RhB) auf die Triebachse und auf der anderen Seite über Gummipakete auf den Drehgestellrahmen abstützen.
An Bremseinrichtungen sind vorhanden:
- Die Druckluftbremse mit je einem Bremszylinder pro Drehgestell.
- Die Handbremse
- Die elektrische Rekuperationsbremse
- Die elektrische Widerstandsbremse
- Die elektrische Magnet-Schienenbremse
Die Triebwagen erhalten die Secheron-Hüpfersteuerung, welche sich schon in den Triebwagen ABe 4/ 4 30 - 34 und ABFe 4/ 4 481 - 486 bestens bewährt hat. Es sind 25 Fahrstufen und 21 Bremsstufen (elektrische Bremsen) vorhanden. Im Übrigen ist noch eine Umschaltung auf Langsamfahrt (Schneeräumung, Rangieren usw.) möglich, wobei alle 4 Triebmotoren in Serie geschaltet sind. Damit ist im unteren Geschwindigkeitsbereich eine weitere wirtschaftliche Fahrstufe vorhanden.
Die Triebwagen sind mit der sogenannten "Totmann"-Einrichtung ausgerüstet, womit sie für einmännig geführte Züge verwendet werden können.
Führertisch mit Stufenschaltung
Im weiteren sind die Triebwagen für Fern-und Vielfachsteuerung eingerichtet, d.h. es können zwei Triebwagen von einem Führerstand aus gesteuert, oder es kann ein Triebwagen vom Führerstand eines Steuerwagens oder einer der neubestellten Schneeschleudermaschinen aus fernbedient werden.
Die Innenausstattung entspricht weitgehend derjenigen der zuletzt gelieferten Personenwagen; so wird auch die moderne Röhrenbeleuchtung eingebaut.
Einige Mühe bereitete die Unterbringung der notwendigen Anfahr- und Bremswiderstände sowie der zwei Stromabnehmer (auf der Berninastrecke eine Notwendigkeit) auf dem Triebwagendach, weil die minimale Fahrdrahthöhe nur 3.85 m beträgt und die Fahrzeuglänge ebenfalls beschrankt ist. Gelöst wurde das Problem dadurch, dass platzsparende Schaufelwiderstände System BBC und neuartige Halbscheren-Stromabnehmer vorgesehen wurden. Die genannten Stromabnehmer wurden auf der Berninastrecke bereits vorgängig ausprobiert. Sie erwiesen sich in Bezug auf den Stromübergang Fahrdraht-Schleifstücke auch bei einfacher Fahrleitung und tiefer Fahrdrahtlage als sehr günstig.
Neuer Einholm Strohmabnehmer
Nach einem halben Jahr Tests und Alltagsbetrieb, berichtet die RhB im Nachrichtenblatt über die gemachten Erfahrungen: «So wird der erste Triebwagen in Pontresina "unter den Draht" geschoben und während einer Woche in allen Details gründlich geprüft. Überraschungen bleiben allerdings auch hier nicht aus. So versagte z.B. am dritten Probetag auf der abendlichen Rückfahrt nach Poschiavo der Umformer. Um die Versuche nicht einstellen zu müssen, wurden zwei Monteure der Maschinenfabrik Oerlikon in ihren Heimstätten in Zürich alarmiert und in nächtlicher Stunde zur Wagonfabrik nach Schlieren geschickt, wo sie um Mitternacht unter Mithilfe des Nachtwächters und des noch aufgebotenen Werkstattchefs den 650 kg schweren Umformer am zweiten Motorwagen demontierten und per Lastwagen nach Poschiavo schicken. Die Ladung konnte bereits um 07 Uhr im Depot in Empfang genommen werden, sodass die Probefahrten praktisch ohne Unterbruch gegen Mittag wieder aufgenommen werden konnten. So etwas nennt man prompte Bedienung!»
Dachwiderstände
En schöna Tag
Christian